IRL2024 - P06

Inhaltsverzeichnis

Disclaimer: Dieser Artikel ist ein Beitrag im Rahmen der Konferenz "Innenraumluft 2024" und spiegelt nicht die Meinung des Umweltbundesamtes wider. Für die Inhalte sind die genannten Autoren und Autorinnen verantwortlich.

Autor
Patrick Lerch
Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht

Empfohlene Zitierweise: Lerch, P. (2024). Die Bedeutung von Privatgutachten in der gerichtlichen Praxis. Beitrag P06 zur Fachtagung „Innenraumluft 2024 - Messen, Bewerten und Gesundes Wohnen“, 6.-8. Mai 2024, Dessau-Roßlau. https://www.umweltbundesamt.de/irl2024-p06

 

Die Bedeutung von Privatgutachten in der gerichtlichen Praxis

Einführung

Vor einem Rechtsstreit steht der Betroffene oft vor dem Problem, dass er nicht richtig in der Lage ist, präzise zu argumentieren, weil er als Laie wenig Kenntnisse von technischen Zusammenhängen hat. Dasselbe Problem stellt sich oft noch einmal im Prozess, i. d. R. dann, wenn eine Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten erfolgt. Manchmal schon dann, wenn der vom Gericht bestellte Sachverständige im ersten Ortstermin technische Nachfragen stellt.

Vorprozessual nimmt die obergerichtliche Rechtsprechung in einigen Fällen Rücksicht darauf, dass der Betroffene Laie ist. So z. B. mit der sog. Symptomrechtsprechung im Baurecht. Hiernach genügt es, wenn der Besteller als Laie in der Mängelrüge einfach angibt, was er sehen kann. Das ist aber nicht immer so; es muss nach verschiedenen Rechtsräumen unterschieden werden. Manchmal hilft selbst in Bausachen die laienhafte Mangeldarstellung in der Sache selbst auch nicht vollständig weiter. Feuchtigkeit an Bauteilen kann man ebenso wenig sehen, wie eine Schimmel- oder Bakterienbelastung. Sinnlich wahrnehmbar sind solche Gegebenheiten erst ab einer gewissen Massivität. Ein Privatsachverständiger hilft in solchen Fällen also i. d. R. weiter.

Der Bundesgerichtshof hat seit je her Privatgutachten als „urkundlich belegten Parteivortrag“ angesehen z.B.: BGH, Urteil vom 5. Mai 1986 – III ZR 233/84 – NJW 1986, 3077, 3079.

Das gab dem Privatgutachten noch keine durchschlagende Bedeutung im Prozess. Inzwischen hat sich die obergerichtliche Rechtsprechung bezüglich der Bedeutung von Privatgutachten im Prozess entscheidend geändert. Mit dieser Änderung befasst sich dieser Beitrag.

 

Die Bedeutung des urkundlich belegten Parteivortrages:

Wie dieser Begriff zu verstehen ist, hatte der BGH mit Urteil vom 11. Mai 1993 (VI ZR 243/92) verdeutlicht:

„(…) Der Tatrichter darf ein Privatgutachten zwar durchaus verwerten, hierbei aber nicht außeracht lassen, dass es sich grundsätzlich nicht um ein Beweismittel im Sinne der §§ 355 ff. ZPO, sondern um (qualifizierten) substantiierten Parteivortrag handelt (…). Eine eigene Beweisaufnahme des Gerichts, insbesondere die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens, wird durch ein Privatgutachten allenfalls dann entbehrlich gemacht, wenn der Tatrichter allein schon aufgrund dieses substantiierten Parteivortrags ohne Rechtsfehler zu einer zuverlässigen Beantwortung der Beweisfrage gelangen kann (…). Als Sachverständigengutachten im Sinne eines Beweismittels kann ein Privatgutachten nur mit Zustimmung beider Parteien herangezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 1986 – III ZR 233/84 – NJW 1986, 3077, 3079) [BGH 05.05.1986 – III ZR 233/84]. (…)“

Das hieß, dass ein Privatgutachten nur unter sehr begrenzten Bedingungen als Beweismittel angesehen werden konnte. Das führte in der gerichtlichen Praxis dazu, dass die Instanzgerichte regelmäßig Beweis durch Sachverständigengutachten einholten – durch einen vom Gericht bestellten Sachverständigen. Dass sich diese Vorgehensweite bis heute erhalten hat, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass sich die Bedeutung von Privatgutachten im Prozess seitdem entscheidend geändert hat.

Zuvor muss darauf hingewiesen werden, dass ein Gericht normalerweise nicht die eigene Sachkunde hat, um beurteilen zu können, ob und wie bestimmte Befunde, gerade im Bereich der baubiologischen Gutachten, zu bewerten sind. Deswegen sind die Instanzgerichte darauf angewiesen, sich fachkundig helfen zu lassen. Ein Gericht, das dies versäumt, muss damit rechnen, dass seine Entscheidung in der Sache aufgehoben wird (z. B.: BGH, Urteil vom 12.07.2017 - IV ZR 151/15. Es ging um den biologischen Unterschied zwischen Schimmel und Schwamm. Das OLG Koblenz hatte sich diesen Unterschied nicht sachverständig erklären lassen; der BGH hob das Urteil deswegen auf.)

Die Heranziehung von Sachverständigen ist also i. d. R. bei technischen Fragen notwendig. Das sagt aber noch nichts über die Bedeutung von Privatgutachten aus. Der Bundesgerichtshof hatte zur Bedeutung von Privatgutachten bereits Hinweise gegeben (z.B.: BGH, Beschluss vom 13.01.2015 - VI ZR 204/14). Es hatte sich dort allerdings um einen Haftpflichtschaden (Reitunfall) gehandelt. Möglicherweise wurden die grundlegenden Erwägungen des Senates in dieser Angelegenheit nicht flächendeckend umgesetzt. In der Instanzrechtsprechung hat jedenfalls der Verfasser wahrgenommen, dass die Bedeutung von Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen weiterhin der Bedeutung privat erholter Gutachten vorgezogen wurde.

 

BGH, Beschluss vom 17.05.2017 – VII ZR 36/15

Mit dieser Bedeutung hat sich der Bausenat des BGH in diesem Beschluss befasst. Der Leitsatz verdient es, vorgestellt zu werden:

„Der Tatrichter hat Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlich bestellten SV zu berücksichtigen. Er ist verpflichtet, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken (…). Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen hat er von Amts wegen nachzugehen und in diesem Rahmen ggf. auch ein weiteres Gutachten einzuholen.“
(Streitpunkt dort: Risse im Bodenbelag; Schwund oder Statik?)

Dogmatisch sagt dieser Leitsatz noch nichts Entscheidendes über das Privatgutachten als Beweismittel aus. Aber der Senat baut seine Entscheidung an einem anderen Gesichtspunkt auf. An der richterlichen Aufklärungspflicht. In diesem Fall - das ist das Markante an dieser Entscheidung – an der Aufklärungspflicht von Amts wegen. Der Senat hat mit diesem Beschluss die Instanzgerichte also verpflichtet, Widersprüche zwischen dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen und des Privatsachverständigen von sich aus aufzuklären. Das war eine entscheidende Besserstellung von Privatgutachten. Ab da war es eben nicht mehr so, dass auf jeden Fall das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen immer den Vorrang hatte.

 

OLG Oldenburg, Urteil von 07.06.2020; 2 U 46/20

Auch diese Entscheidung ist bemerkenswert. Das OLG Oldenburg befasste sich zunächst mit der – oft standardmäßigen – Begründung, mit dem Instanzgericht dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen den Vorzug geben. Das OLG Oldenburg kritisierte diese Textbausteine. Denn: I. d. R. sagen diese über die tatsächliche Qualität des Gutachtens eines gerichtlich bestellten Sachverständigen nichts aus. Wenn dem gerichtlich bestellten Sachverständigen der Vorzug gegeben werden soll, dann nur aufgrund seines Gutachtens selbst – mit inhaltlicher Auseinandersetzung des Gerichts.

Genau auf diese Inhalte geht das OLG Oldenburg dann auch ein. Es wirft der Vorinstanz vor, die Inhalte – in diesem Fall auch des Privatgutachtens – nicht richtig verstanden zu haben. Dieses Verständnis aber, so das OLG, sei Voraussetzung dafür, um in der Sache urteilen zu können. Es verlangt von der Vorinstanz also, die vorgelegten Gutachten zu verstehen und – notfalls – sich kundig zu machen.

 

BGH, Beschluss vom 28.03.2023 VI ZR 29/21

Die im Augenblick letzte markante Entscheidung zur Bedeutung von Privatgutachten. Der Sachverhalt sei kurz erwähnt: Es war um die Folgen und die Verursachung eines Brandschadens in beträchtlicher Höhe gegangen. Streitgegenständlich war die Brandursache. Das Gericht hatte einen Sachverständigen eingesetzt. Dessen Ergebnis war einigermaßen ernüchternd: Die Brandverursachung durch ein elektrisch betriebenes Haushaltsgerät könne nicht mehr nachgewiesen werden; die Geräte seien nach dem Brand entsorgt worden. Der Kläger hatte die Brandursache aber selbst dokumentiert und dokumentieren lassen. Das zentrale Dokumentationsmittel war ein Privatgutachten. Der BGH hat diese Dokumentation, wie den Entscheidungsgründen zu entnehmen ist, selbst gelesen und gewürdigt. Der letzte Satz der Beschlussgründe ist aufschlussreich:

„Der Umstand, dass der angeblich produktfehlerhafte Gegenstand nicht mehr vorhanden ist, schließt den Beweis eines Produktfehlers nicht grundsätzlich aus.“

 

Fazit

Formell mag ein Privatgutachten immer noch „urkundlich belegter Parteivortrag“ sein. Das ist aber nicht mehr der zentrale Punkt der Betrachtungen. Heute ist, nach den eben vorstellten Entscheidungen, ein Privatgutachten von erheblichem Beweiswert. Letzen Endes kommt es nicht darauf an, in welcher Funktion der Sachverständige sein Gutachten erstellt hat. Es kommt vielmehr auf die Schlüssigkeit eines solchen Gutachtens an. Es kommt darauf an, ob ein solches Gutachten den Tatbestand fachlich richtig, nachvollziehbar und erschöpfend behandelt. Die vom Verfasser hin und wieder wahrgenommene Einstellung, dass mit einem solchen Gutachten nicht viel zu gewinnen sei, weil es ohnehin auf das Gutachten des später gerichtlich bestellten Sachverständigen ankomme, dürfte nach dem jetzigen Stand der Rechtsprechung nicht mehr ganz aktuell sein.

Ein gutes Privatgutachten kann im Gegenteil am Ende streitentscheidend sein.

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