Straßenräume neu verteilen zugunsten der aktiven Mobilität und des Umweltverbunds
Eine umwelt- und menschenfreundliche Stadt zeichnet sich durch gute Bedingungen für die aktive Mobilität – also die Fortbewegung mit Hilfe der eigenen Muskelkraft, wie Zufußgehen und Radfahren – und eine hohe Aufenthaltsqualität aus. Der wachsende motorisierte Individualverkehr beeinträchtigt dagegen die Aufenthalts- und Lebensqualität durch Abgase, Lärm und belegt viel Fläche im öffentlichen Raum. Fuß- und Radwege sind oft zu schmal oder enden plötzlich. Das Überqueren von Straßen innerorts stellt eine Herausforderung dar, wenn sie breit und viel befahren sind. Und es stehen zu wenig sichere Überwege zur Verfügung – gerade für Kinder ist das ein großes Problem.
Dort, wo Menschen attraktive Straßenräume vorfinden und leicht zu Fuß und mit dem Fahrrad unterwegs sein können, bieten Städte und Gemeinden ihren Einwohnerinnen und Einwohnern eine hohe Lebensqualität. Aktive Mobilität fördert das individuelle Wohlbefinden, senkt das Stresslevel und hilft, viele Krankheiten zu vermeiden. Zudem kann die lokale Wirtschaft von einer Erhöhung des Fuß- und Radverkehrsanteils profitieren.
Auch für die Nutzung des Öffentlichen Verkehrs ist die Gestaltung des Straßenraums wichtig. Ein sicherer, angenehmer und ohne Umwege erreichbarer Zugang zu Bus und Bahn sorgt mit dafür, dass der ÖPNV genutzt wird. Das Umweltbundesamt forscht gegenwärtig zu diesem Aspekt der aktiven Mobilität .
Neben dem Zufußgehen und Radfahren zählt auch die Nutzung von Rollatoren, Rollstühlen, Handbikes und Tretrollern zur aktiven Mobilität. Daher setzt sie auch eine barrierefreie Straßenraumgestaltung voraus.
Aktive Mobilität schont die Umwelt, ist günstiger als Autofahren und steht allen Bevölkerungsgruppen offen. Sie ist Teil des Umweltverbunds im Nahverkehr, wozu auch Bus, Bahn, Carsharing und Taxen gehören.
Viele Städte und Gemeinden sind auf dem Weg, ihre Straßen Stück für Stück zugunsten des Fuß- und Radverkehrs, des ÖPNV und zugunsten von Grünflächen und Straßenbäumen neu aufzuteilen. Das Umweltbundesamt hat vorbildliche Beispiele aus dem In- und Ausland analysiert und daraus Handlungsempfehlungen für die kommunale Stadt- und Verkehrsplanung entwickelt: Die Fachbroschüre "Straßen und Plätze neu denken" und acht Factsheets aus Dessau, Potsdam, Berlin, Köln, München, Oslo, Barcelona und Pontevedra zeigen gelungene Gestaltungsbeispiele. Konkrete Planungsanregungen gibt die Broschüre "Quartiersmobilität gestalten" .
In der Planung vor Ort entscheiden bestimmte Faktoren darüber, ob die Umgestaltung erfolgreich ist. Diese Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Umgestaltung des Straßenraums fasst eine weitere Fachbroschüre zusammen. Sie stellt neun Thesen zu den Eigenschaften gelungener Umgestaltungsprojekte auf. Diese adressieren Schritte im Planungs- und Umsetzungsprozess und können Kommunen helfen, aus den gemeisterten Herausforderungen zu lernen.
Die Beispiele zeigen, dass es an den entscheidenden Stellen Personen braucht, die Visionen entwickeln und auf diese hinarbeiten. Zentral ist es zudem, dass ein Stadt- oder Gemeinderatsbeschluss dem Vorhaben politischen Rückenwind verschafft und die Verankerung in der Verwaltung stützt. Werden Visionen getestet und schrittweise umgesetzt, stellt dies einen Erfolgsfaktor dar. Neben der Anpassung an lokale Gegebenheiten ist auch das Timing entscheidend, wenn Straßenraum umgestaltet werden soll. Bietet sich ein Möglichkeitsfenster, wie das notwendige Verlegen neuer Leitungen oder Kabel, sollte dieses genutzt werden, um parallel den Straßenzuschnitt und die Flächenverteilung zu verändern.
Die Vision einer lebenswerten und nachhaltigen Stadt kann damit schrittweise verwirklicht werden. Wichtig ist auch eine umfassende und frühzeitige Beteiligung betroffener Bürger*innen sowie lokaler Akteure. Geschäfte an Straßen, die umgestaltet werden sollen, befürchten häufig, dass ihre Kundschaft bei ihnen nicht mehr einkauft, wenn weniger Parkplätze an der Straße zur Verfügung stehen. Manche Anwohnenden meinen, ihr Auto nicht mehr in Wohnungsnähe parken zu können. Diese Befürchtungen müssen ernstgenommen und die geplanten Lösungen verständlich dargestellt werden. Der teils hohe Aufwand einer umfassenden Beteiligung lohnt sich, weil die Akzeptanz für die Umgestaltung damit erhöht werden kann. Ungewollte negative Folgen werden durch geeignete Beteiligungsformate früher erkannt. Viele Beispiele zeigen auch, dass sich die anfänglichen Bedenken der Betroffenen oft als unbegründet erweisen und die Zufriedenheit nach der Umgestaltung des Straßenraums steigt.
Aus der fuß- und radverkehrsfreundlichen Gestaltung der Innerortsstraßen ergeben sich auch Chancen für die lokale Wirtschaft, wie den Einzelhandel, Dienstleistungen wie Friseur- und Handwerksbetriebe sowie für Hotels, Restaurants und Cafés. Oft wird die Straßenraumumgestaltung zur Förderung des Zufußgehens und Radfahrens in der Planungsphase von der lokalen Wirtschaft kritisch gesehen. Evaluierungen zeigen allerdings, dass diese Vorbehalte in der Regel unbegründet sind und belegen die positive Wirkung der Straßenraumumgestaltungen für die Unternehmen.
Umgestaltungsvorschläge für Straßen in Mainz, Bremen und Kassel
Für einzelne Straßenzüge in Mainz, Bremen und Kassel entwickelte das Forschungsprojekt "Maßnahmen zur Umwidmung und Neuverteilung von Verkehrsflächen" Machbarkeitsstudien, wie die zur Verfügung stehenden Verkehrsflächen zugunsten der aktiven Mobilität umverteilt werden könnten. Sie zeigen die mögliche Umgestaltung
- einer Hauptverkehrsstraße: der Friedrich-Ebert-Straße in Bremen,
- einer Geschäftsstraße sowie deren Seitenstraße mit dem Ziel einer Aufwertung einer Fußverkehrsachse: der nördlichen Untere Königsstraße in Kassel und
- die Einrichtung einer Radverkehrsachse in Nebenstraßen: der Frauenlobstraße in Mainz-Neustadt.
Die Machbarkeitsstudien zeigen, dass in allen Modellstraßen die Flächen des fließenden und ruhenden Kfz-Verkehrs reduziert werden können. Der so gewonnene Raum käme der aktiven Mobilität, dem Fahrradparken, dem Aufenthalt, der Außen-Gastronomie sowie Begrünungen und Baumpflanzungen zugute. Und die untersuchten Straßen ließen sich durch die vorgeschlagenen Umgestaltungen auch leichter zu Fuß überqueren.
Evaluation von Umgestaltungsprojekten in Köln, Kiel, Leipzig und Aachen
Die Städte Leipzig, Köln, Kiel und Aachen führten von 2016 bis 2021 im Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs‐ und Städtebau“ (ExWoSt) temporäre und dauerhafte Umgestaltungen von Straßen und Plätzen zugunsten des Fuß‐ und Radverkehrs sowie der Aufenthaltsqualität durch. Die Bürgerbeteiligung und Öffentlichkeitsarbeit waren dafür eine wichtige Grundlage. Das Umweltbundesamt (UBA) und das Bundesinstitut für Bau‐, Stadt‐ und Raumforschung (BBSR) förderten und evaluierten diese Modellprojekte gemeinsam und führten eine repräsentative Befragung in den Modellstädten durch. Die Begleitforschung des UBA bestand aus zwei Forschungsprojekten.
Im "Modellvorhaben nachhaltige Stadtmobilität unter besonderer Berücksichtigung der Aufteilung des Straßenraums" – kurz: MONASTA – begleitete das UBA die Straßenraumprojekte in den vier Städten wissenschaftlich. Der Planungsablauf, der Beteiligungsprozess und die Realisierung der Modellprojekte wurden evaluiert. Die Ergebnisse der Prozess‐ und Wirkungsevaluation fasst dieses Video sowie das Factsheet "Modellvorhaben nachhaltige Stadtmobilität unter besonderer Berücksichtigung der Aufteilung des Straßenraums (MONASTA)" zusammen. Das ausführliche Ergebnis und die Methoden sind im Abschlussbericht dokumentiert.
Motivationsfaktoren fürs Zufußgehen und Radfahren
Was regt Menschen dazu an, öfter zu Fuß zu gehen oder Rad zu fahren und was hindert sie daran? Dieser Frage ging das Forschungsprojekt "Aktive Mobilität: Mehr Lebensqualität in Ballungsräumen" nach. Es untersuchte die Faktoren, die Menschen motivieren, im Alltag zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren. In einer repräsentativen Online‐Befragung in zwölf deutschen Städten ab 100.000 Einwohnenden zeigte sich, worin Barrieren und motivierende Einflüsse liegen. Es spielen Einstellungen, Gewohnheiten, persönliche und soziale Normen sozialpsychologisch eine Rolle. Wer zum Beispiel seinen Arbeitsweg schon immer mit dem Fahrrad zurückgelegt hat, bleibt auch unter schwierigeren Bedingungen dabei. Gegen das Gehen oder Radfahren sprechen aus der Sicht der Befragten subjektive Barrieren wie zu wenig Komfort, mangelnde subjektive Sicherheit oder die fehlende Flexibilität und Privatsphäre im ÖPNV.
Die Auswertung zeigt, dass Menschen besonders oft zu Fuß gehen, wenn sie es als positiv wahrnehmen. Je interessanter, angenehmer und flexibler wir das Zufußgehen empfinden, desto eher legen wir viele Wege zu Fuß zurück. Beim Fahrradfahren wurde sogar ein noch stärkerer Zusammenhang mit einer solchen positiven Einstellung beobachtet. Besonders für den Fußverkehr ist es entscheidend, wie weit die Ziele entfernt sind, die wir erreichen wollen. Nahgelegene Aktivitäten motivieren zum Zufußgehen ebenso wie eine hohe städtebauliche Dichte des Wohnquartiers. Überraschend war, wie wichtig vielen Menschen der Internet- bzw. Mobilfunkzugang ist, um sich für das Zufußgehen zu entscheiden.
Personen, denen die Sicherheit im Straßenraum besonders wichtig ist, gehen eher zu Fuß. Menschen fahren dagegen tendenziell eher mit dem Fahrrad, denen die Sicherheit bei der Verkehrsmittelwahl nicht so wichtig erscheint. Dies deutet darauf hin, dass das Fahrrad eher als unsicheres Verkehrsmittel empfunden wird.
Wer die Privatsphäre und den Komfort bei der Verkehrsmittelwahl hoch bewertet, fährt eher nicht Fahrrad. Verfügen Menschen über eine hohe formale Bildung und ein starkes Umweltbewusstsein, fahren sie öfter mit dem Fahrrad.
Je mehr Pkws in einem Haushalt vorhanden sind, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass man sich zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegt. In persönlichen Interviews kam zum Ausdruck, dass Fahrräder gegenüber Autos im Straßenverkehr als unterlegen wahrgenommen werden.
Die Befragungsergebnisse zeigen Handlungsoptionen für Bund, Länder und Kommunen
Die repräsentative Erhebung in zwölf deutschen Städten zeigt: Bund, Länder und Kommunen sollten mehr für das Thema Zufußgehen sensibilisieren. Helfen können Imagekampagnen für die aktive Mobilität, die Förderung der „Stadt der kurzen Wege“ und eine flächendeckende mobile Internetverfügbarkeit.
Die Studie zeigt auch, dass sowohl Maßnahmen, die die aktive Mobilität fördern als auch solche, die das Autofahren unattraktiver machen (sogenannte Push- und Pull-Maßnahmen) benötigt werden. Dazu sollten schmale Gehwege verbreitert, mehr Querungshilfen angeboten und der Ausbau eines lückenlosen, sicheren und attraktiven Radwegenetzes vorangetrieben werden. Eine parallele Verbesserung des ÖPNV-Angebots ist ebenso notwendig, da besonders zu Fuß Gehende auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, um auch entferntere Ziele erreichen zu können. Diese Pull-Maßnahmen verbessern das Angebot für den Rad- und Fußverkehr.
Die Pkw-Nutzung und die Dominanz parkender Pkw im öffentlichen Straßenraum lässt sich wirksam mit einer Parkraumbewirtschaftung verringern. Wenn Tempo-30 auch an Hauptverkehrsstraßen angeordnet wird, nehmen Autofahrende mehr Rücksicht auf zu Fuß Gehende und Radfahrende. Damit sind sie sicherer unterwegs. Diese Push-Maßnahmen sorgen dafür, dass der Kfz-Verkehr weniger priorisiert wird und die aktive Mobilität mehr Raum und Sicherheit erhält.