COVID-19 Konjunkturpakete sind eine Gelegenheit für ambitioniertere Klimapolitik
Blogartikel von Nicolas Schmid
Regierungen weltweit haben starke, wissenschaftsbasierte Maßnahmen gegen die Verbreitung von COVID-19 umgesetzt, von Grenzschließungen bis zu einem Lock-Down für ein Drittel der Weltbevölkerung. Aufgrund dieser Maßnahmen ist die wirtschaftliche Aktivität in den meisten Sektoren und Ländern abrupt und stark eingebrochen. Um eine globale Wirtschaftskrise zu verhindern haben Regierungen massive Rettungs- und Konjunkturpakete vorgeschlagen und umgesetzt. Beispielsweise hat der US-Kongress ein $2 Billionen-Programm verabschiedet. Die deutsche Regierung hat eine unbegrenzte Kreditlinie und einen Krisenfond von €600 Milliarden eingeführt. In der Schweiz hat die Regierung ein Hilfspaket von CHF42 Milliarden beschlossen. Zwar unterscheiden sich diese Programme in der Gestaltung und reflektieren länderspezifische Wirtschaftspolitiken, allerdings stellen diese Programme zusammengenommen Staatsinterventionen in liberale Märkte historischen und beispiellosen Ausmaßes dar. Diese Interventionen sind eine einmalige Gelegenheit, gleichzeitig sowohl die unmittelbare Wirtschaftskrise, als auch eine andere globale Krise zu adressieren: Die Klimakrise.
Die Lösung der Klimakrise erfordert eine schnelle und tiefgreifende Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften. Eine solche Dekarbonisierung hängt weitgehend von staatlichen Eingriffen ab: Eine Analyse der Internationalen Energieagentur zeigt beispielsweise, dass Regierungen direkt oder indirekt für mehr als 70% der globalen Energieinvestitionen verantwortlich sind. Daher legen die Regierungen nicht nur die Spielregeln fest, sondern spielen auch eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Energiemärkte. Ob die COVID-19 Konjunkturpakete im Einklang stehen mit Bemühungen zur Dekarbonisierung wird auch darüber entscheiden, ob und wie wir das 1,5 °C-Klimaziel erreichen können. In einer idealen Welt könnten die Konjunkturprogramme das schnellste und größte Dekarbonisierungsprojekt der Menschheitsgeschichte in Gang setzen.
Die Realität ist jedoch chaotischer. Einige der Sektoren und Unternehmen, die derzeit für staatliche Unterstützung in Betracht gezogen werden, sind dieselben Sektoren und Unternehmen, die aus Klimaperspektive ihre Geschäftsmodelle ändern, die Aktivität verringern oder sogar ganz verschwinden müssen. Beispielsweise schlug die Trump-Regierung im Rahmen der COVID-19-Strategie ein Hilfspaket für zwei besonders CO2-intensive Industrien vor, nämlich die US-amerikanische Öl- und Gasindustrie und die Kreuzfahrtindustrie. Gleichzeitig bedroht der wirtschaftliche Abschwung Sektoren und Unternehmen, die die zur Lösung der Klimakrise erforderlichen Technologien produzieren, wie beispielsweise Hersteller erneuerbarer Energietechnologien. Das Überleben dieser Sektoren und Unternehmen ist der Schlüssel für einen wirtschaftlichen Aufschwung im Einklang mit dem 1,5 ° C Ziel. Aus politikwissenschaftlicher Literatur wissen wir, dass die Klimapolitik in erster Linie eine Verteilungsfrage ist, da wirksame Politikmaßnahmen Verlierer und Gewinner unter Unternehmen und betroffenen Industrien produziert. Aufgrund dieser Verteilungspolitik ist ambitionierte Klimapolitik eine schwierige Aufgabe für politische Entscheidungsträger, da es einflussreiche Interessensgruppen und bestehende Infrastruktur rund um fossile und CO2-intensive Industrien gibt, welche zu politisch starken Gegnern und Pfadabhängigkeit führen. Dies wiederum kann notwendige politische Massnahmen zur Dekarbonisierung erschweren und zu einem «carbon lock-in» führen.
Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass die Konjunkturpakete den existierenden «carbon lock-in» durch die Unterstützung CO2-intensiver Industrien verfestigen. Dies würde das 1,5 °C-Ziel effektiv untergraben. Aus politikwissenschaftlicher Literatur wissen wir jedoch auch, dass sich die Spielregeln im Politikbetrieb während Krisen dramatisch ändern können. Ungewissheit und Schock können Gelegenheiten eröffnen, sogenannte «critical junctures», die es den politischen Entscheidungsträgern ermöglichen, von bestehenden Pfaden abzuweichen und wichtige politische Änderungen umzusetzen. Beispiele hierfür sind die tiefgreifenden Einschnitte in Bürgerrechte und Umwälzungen in der Außenpolitik nach 9/11 oder die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren, die zum New Deal in den USA führte. Die COVID-19-Krise und die damit zusammenhängenden Konjunkturpakete stellen aus zwei Gründen einen solchen kritischen Moment dar.
Erstens vergrößert die Krise den Handlungsspielraum der politischen Entscheidungsträger erheblich. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise machen wirtschaftliche Akteure, einschließlich CO2-intensiver Industrien, anfällig für staatliche Interventionen und deshalb abhängig von der öffentlichen Hand: Derzeit haben die Regierungen die Oberhand. Diese Änderung des Kräfteverhältnisses zwischen politischen Entscheidungsträgern und Industrie schafft die Voraussetzungen für umfassende Änderungen von Politikmaßnahmen. Diese Bedingungen allein reichen jedoch nicht aus, um größere politische Änderungen herbeizuführen. In Anbetracht des oben erwähnten «carbon lock-in» ist es sehr gut möglich, dass sich politische Entscheidungsträger dagegen entscheiden, diese einmalige Gelegenheit, oder «window of opportunity», zum Zwecke der Dekarbonisierung zu nutzen.
Zweitens können wir daher nur in Kombination mit drei Faktoren größere politische Änderungen erwarten. (i) Die politischen Entscheidungsträger benötigen glaubwürdige und praktikable Optionen für Änderungen der Politikmaßnahmen. Im Energiesektor sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Alternativen zu etablierten Energieträgern wie Kernenergie oder Braunkohle wettbewerbsfähig sind: Die Kosten für Solar- und Windenergie sind in den letzten Jahren um ein Vielfaches gefallen. (ii) Deshalb haben Hersteller von erneuerbaren Energietechnologien mittlerweile viel mehr politischen Einfluss als noch vor wenigen Jahren. Heute sichern diese Unternehmen und deren Wertschöpfungsketten Hunderttausende von Arbeitsplätzen, generieren Steuereinnahmen und steigern die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften. (iii) Neben diesen wirtschaftspolitischen Aspekten hängen in Demokratien wichtige politische Änderungen aber auch von der öffentlichen Meinung und dem Wahlverhalten der BürgerInnen ab. Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass BürgerInnen auf der ganzen Welt ehrgeizige Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise unterstützen, einschließlich Veränderungen im Energiesektor. Diese drei Faktoren bilden zusammen mit den oben genannten Bedingungen eine einmalige Gelegenheit und «window of opportunity» für umfassende Änderungen der bestehenden Politikmaßnahmen.
Die politischen Entscheidungsträger sollten diese Gelegenheit nutzen, um auf eine ehrgeizigere Klimapolitik zu drängen. Die massiven Maßnahmen zur Rettung der Wirtschaft im Zuge von COVID-19 repräsentieren wahrscheinlich eine der wenigen verbleibenden signifikanten Momente, um die Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften vor 2030 zu beschleunigen. Glücklicherweise müssen die politischen Entscheidungsträger nicht bei Null anfangen: Es gibt viele bereits bestehende Strategien und Ideen für die Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften und Energiesysteme, angefangen vom Green New Deal der USA über den Green Deal der EU bis hin zu nationalen Politiken wie der Energiestrategie in der Schweiz. Die politischen Entscheidungsträger sollten diese Ideen in Konjunkturpakete zur Bewältigung der COVID-19-Krise //medium [dot] com/ [at] hofstetter [dot] dominic/beendet-covid-19-die-quengelei-in-der-schweizer-klimapolitik-6fc227b87660">integrieren. Die staatliche Unterstützung für CO2-intensive Industrien sollte an Bedingungen für zukünftige Dekarbonisierung geknüpft werden. Beispielsweise nutzte die Obama-Regierung nach der Rettung der US-Autohersteller im Jahr 2008 die politische Oberhand, um strengere Kraftstoffverbrauchsstandards durchzusetzen. Ausserdem sollten Konjunkturpakete auf bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten wie Energieeffizienz oder den Ausbau erneuerbarer Energie abzielen. In den 1930er Jahren beispielsweise wurde der Hoover-Staudamm, eines der großen Infrastrukturprojekte des 20. Jahrhunderts, im Rahmen des New-Deal-Programms gebaut. Heute bieten COVID-19-Konjunkturpakete die Möglichkeit, gleichermaßen historische Projekte umzusetzen und damit die Erreichung des 1,5 °C-Ziels realistischer zu machen.
Dieser Blogeintrag wurde auf dem ETH Energy Blog erstveröffentlicht unter folgendem Titel: “COVID-19 stimulus packages represent a critical juncture for climate policy”, Energy Blog @ ETH Zurich, ETH Zurich, April 3, 2020, https://blogs.ethz.ch/energy/covid-19
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Autor:
Nicolas Schmid ist Doktorand in der Gruppe für Energiepolitik an der ETH Zürich. Seine Forschung beschäftigt sich mit der Frage ob und wie technologischer Wandeln im Energiesektor politische Prozesse und Massnahmen beeinflusst. Generell ist er an der politischen Machbarkeit von ambitionierter Klimapolitik interessiert. Seine Forschung ist in führenden wissenschaftlichen Zeitschriften, wie Climate Policy oder Policy Studies Journal, publiziert. Nach seiner Promotion im Sommer 2020 wird Nicolas seine Arbeit in der Gruppe für Energiepolitik als wissenschaftlicher Mitarbeiter fortsetzen.