Umsteuern statt hochfahren
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?
Bertolt Brecht, 1953
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?
Bertolt Brecht, 1953
Blogartikel von Prof. Dr. Claus Leggewie
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?Bertolt Brecht, 1953
„Hochfahren“ liegt im Deutschen nah bei hochfahrend. Nach dem Schreckensmoment der Corona-Krise kommen die Realisten aus der Deckung, die mögliche Pandemie-Tote gegen sichere Krisen-Verluste aufrechnen und „die Wirtschaft“ wieder ankurbeln wollen. Hochfahren wie einen Hochofen nach einer Panne im Betrieb, einen abgewürgten Motor, oder wohliges Gasgeben nach einer Geschwindigkeitsbegrenzung. Die Idee ist, mit demselben Treibstoff und der gleichen Geschwindigkeit in dieselbe Richtung wie früher zu fahren, nur schneller.
Das sind die falschen Bilder von Post-Corona. Natürlich müssen Unternehmen geöffnet, Güter erzeugt und Arbeit geleistet werden. Und natürlich sind Fantasien von Entschleunigung naiv, die sich nur leisten kann, wer auf eine hochentwickelte Volkswirtschaft vertrauen kann. Es geht nicht um Anti-Ökonomie, aber um eine andere Wirtschaft.
Wer jetzt auf „Abwrackprämien“ setzt, die schon 2008 das falsche Signal setzten, und jetzt Business as usual plus fordert, um die Wachstumsdelle im ersten Quartal 2020 in neue Rekordhöhen umzustülpen, vertut die historische Chance zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, die im Interesse der Mehrheit der wirtschaftenden Bevölkerung liegt und von den meisten im Grunde auch gewünscht wird.
Seid realistisch, fordert das Unmögliche, lautete ein utopischer Slogan des Mai 68. Die Corina-Krise ermöglicht Dinge, die eben noch völlig unmöglich schienen. Und da der Klimawandel und das Artensterben weit mehr Tod und Leid verursachen werden als eine Pandemie, ist das Unmögliche jetzt die einzig realistische Forderung. Die Pandemie zeigt, was notwendig ist: ein öffentlicher Sektor der Daseinsvorsorge, da systemrelevante Infrastrukturen nicht in die Hände privater Profiteure gehören. Der Fetisch Globalisierung hat gerade im Gesundheitswesen eine lebensgefährliche Abhängigkeit erzeugt, die eine intelligente Deglobalisierung mit der Stärkung regionaler Märkte nahelegt. Und die neokoloniale Grundlage der Weltwirtschaft ist durch die ungleichen Folgen der Pandemie ebenfalls brutal sichtbar geworden. Auch in den reichen Gesellschaften tragen die Hauptlasten der Pandemie die ärmeren Teile der Bevölkerung.
„Realisten“ legen jetzt nahe, eine schwer lädierte Ökonomie nicht durch verstärkten Klimaschutz und andere Umweltauflagen zu belasten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Sie ist am besten wiederzubeleben durch die entschlossene Präferenz emissionsarmer Branchen und Betriebe und ein entschiedenes Divestment aus emissionsintensiven Bereichen, beginnend mit der raschen Streichung von Subventionen in fossile Wirtschaftszweige. Doch wie lenkt man Investitionen in Zukunftsfonds für eine nachhaltige Ökonomie um? Es bietet sich an, diese aus CO2- und Nachlass-Steuern und Einkünften aus Emissionshandel zu alimentieren und die Einkünfte des Zukunftsfonds in nachhaltige Wertschöpfungsketten und eine Kreislaufwirtschaft fließen zu lassen, deren Erträge mittelfristig an private und öffentliche Haushalte zurückfließen. Diesem Radwechsel schaute man ungeduldig, aber hoffnungsvoll zu.
Autor:
Claus Leggewie lehrt Politikwissenschaft und hat die Ludwig Börne-Professur an der Universität Gießen inne. Bis 2017 war er Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen (Deutschland). Leggewie war Stipendiat am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) Wien (1994 und 2006), Max-Weber-Lehrstuhl an der New York University (1995-97), Remarque-Institut New York (1997-8) und am Wissenschaftskolleg Berlin (1999-2000). Von 2008 bis 2016 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WGBU). Seine jüngste Veröffentlichung ist "Jetzt! Opposition, Protest, Widerstand" (Köln 2019).