Online-Veranstaltung: Aus der Praxis der Spaziergangswissenschaft
Mit zugespitzten Titeln wie „Wer plant die Planung?“, „Warum ist Landschaft schön?“ und „Design ist unsichtbar“ vermochte es der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt (1925–2003), die festgefügten Denkweisen und Wahrnehmungen des Alltags zu hinterfragen. Der Beobachtung des Stadtraums, der Mobilität und der Landschaft im Modus des Gehens kam dabei eine zentrale Schlüsselrolle zu.
Landschaft muss demnach notwendig ergangen werden, kann nicht von einem Ort aus oder allein in einer Bibliothek verstanden werden. Architekten und Planer seiner Zeit kritisierte Burckhardt als „Schreibtischtäter“.
Dieses Spannungsverhältnis aus theoretischem und erwandertem Wissen beschäftigt auch Bertram Weisshaar, der bei seinem Studium der Landschaftsplanung an der Universität Kassel mehrere Seminare von Lucius Burckhardt besuchte.
Seit nunmehr drei Jahrzehnten geht er wortwörtlich der Praxis der Spaziergangswissenschaft nach. Bei seinen Projekten geht es stets auch darum, „in Fortbewegung“ ungewöhnliche Perspektiven zu eröffnen oder diese zu erweitern. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die für Zufußgehende gut gestaltete „Viertelstundenstadt“, wobei er beispielweise die Oberbürgermeister von Koblenz und Leipzig zu öffentlichen Spaziergängen gewinnen konnte. Aktuell arbeitet er mit bei dem Projekt „Besseres Klima in Kommunen geht gut“, das vom Fachverband Fußverkehr FUSS e.V. in vier Modellstädten durchgeführt wird. Auch entwarf und erwanderte er einen umweltlichen „Pilgerweg von A bis Z“– den Denkweg quer durchs Land von Aachen bis Zittau. Der Querschnittsmethode entsprechend, zielt dieser Fernwanderweg auf ein möglichst repräsentatives Bild der Gegenwart. Entlang der Route reihen sich daher bewusst besonders geschützte Landschaften wie ebenso ausgeräumte Alltagslandschaften. Seine erste öffentliche Spaziergangsveranstaltung konnte Weisshaar bereits 1995 in dem stillgelegten Tagebau Golpa-Nord (heute Ferropolis) realisieren. Bis 1999 erlebten etwa 6.000 Menschen das ansonsten unzugängliche Bergbaugelände als besondere Landschaft, in welcher Weisshaar auch mit künstlerischen Gärten experimente. Mit Perspektive auf den Kohleausstieg und das Ende des Kohlenbergbaus in Deutschland arbeitet Weisshaar gegenwärtig an der Publikation „Letzte Kohle. Andere Landschaften“. Darin stellt er vergleichend die Entwicklungen und Herausforderungen im Lausitzer, Mitteldeutschen und Rheinischen Revier vor und plädiert für eine besondere Gestaltung der Folgelandschaften.
Bertram Weisshaar ist Spaziergangsforscher. Nach einer Ausbildung zum Fotografen studierte er Landschaftsplanung und Spaziergangswissenschaft an der Gesamthochschule Kassel bei Lucius Burckhardt. Inszenierte Tagebauspaziergänge durch ostdeutsche Braunkohletagebau markieren den Startpunkt seiner Laufbahn. Mittels der Plattform Talk Walks Audio veröffentlichte er eine Reihe von Hörspaziergängen, zuletzt zur „Philosophie des Gehens“. Noch dieses Jahr wird sein neues Buch erscheinen: „Letzte Kohle. Andere Landschaften“.
Der Schweizer Soziologe, Stadtplanungstheoretiker und Ökonom Lucius Burckhardt gilt als Vordenker der Urbanismuskritik. Er begründete in den 1980er Jahren aus Elementen der Soziologie und des Urbanismus die Promenadologie, die Spaziergangswissenschaft. Sie eint planungs- und bauwissenschaftliche, soziologische, kunst- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Er fragte sich, wenn konkrete (ländliche und urbane) Räume sich verändern, was tut das mit uns und mit unserer Wahrnehmung? Das neue Fach entwickelte er während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Kassel und hielt seine Erkenntnisse in zahlreichen Publikationen fest, die noch heute entscheidende Impulse für unseren Umgang mit Landschaften und Städten geben.
Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme und einen regen Austausch!